Stellungnahme
Europäische Strategie für Pflege und Betreuung
Der mangelhafte Zugang zu hochwertiger und bezahlbarer Pflege ist ein gravierendes gesellschaftliches Problem. Dort setzt die Europäische Strategie für Pflege und Betreuung an.
Bewertung des dbb
Der dbb beamtenbund und tarifunion begrüßt diese Initiative der EU. Er betont allerdings, dass die konkrete Ausgestaltung der Pflegepolitik wie Fragen der sozialen Sicherheit überhaupt grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen. Der dbb sieht diese Aufgabenteilung im Einklang mit der europäischen Kompetenzordnung, des Subsidiaritätsgrundsatzes und eines gut funktionierenden, auch demokratisch begründeten Aufbaus des europäischen Staatenverbundes
In der Sache unterstreicht der dbb, dass die Nachfrage nach Betreuung hoch ist und weiter steigen wird. Sowohl im Bereich der Kinderbetreuung als auch der Langzeitpflege ist eine steigende Nachfrage zu verzeichnen. Während der Bedarf an Kinderbetreuungsdiensten voraussichtlich eher linear ansteigen wird, nimmt der Bedarf an Langzeitbetreuung exponentiell zu. Der dbb hebt hervor, dass das Angebot an Pflegedienstleistungen nicht dem Anstieg der Nachfrage entspricht.
Der Pflegesektor ist in vielen Mitgliedstaaten mit erheblichen Engpässen in den Bereichen Finanzierung, Personal und Infrastruktur konfrontiert. Bislang reichen die öffentlichen Investitionen vielerorts nicht aus, um ausreichend verfügbare, zugängliche, erschwingliche und qualitativ hochwertige Betreuungsdienste zu gewährleisten und weder einheimische Arbeitskräfte noch neue Arbeitskräfte mit Migrationshintergrund können die personellen Lücken vollständig schließen. Vielerorts sind die Personalstrukturen überaltert, zu wenige junge Kolleginnen und Kollegen ersetzen zu viele in den Ruhestand gehende ältere Beschäftigte.
Eine überproportional große Anzahl an Pflegefachkräften geht darüber hinaus in den Vorruhestand. Der dbb erachtet es als wichtig, dass der Arbeits- und Gesundheitsschutz gerade im Bereich der Pflege deutlich verbessert wird, damit die Beschäftigten nicht aufgrund von gesundheitlichen Problemen dazu gezwungen sind, ihren Beruf zu wechseln. Die Etablierung von technischen Hilfsmitteln, wie beispielsweise Kräne zur Umlagerung übergewichtiger Patientinnen und Patienten, kann eine Entlastung der Beschäftigten darstellen.
Ohne eine ausreichende Zahl flächendeckend verfügbarer Tages- und Nachtpflege- sowie von Kurzzeitpflegeplätzen kann eine passgenaue Pflege nicht erfolgen, und die Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf leidet. Der dbb fordert aus diesen Gründen seit Jahren einen Rechtsanspruch auf einen entsprechenden Pflegeplatz – analog zur Kinderbetreuung.
Der dbb stellt heraus, dass der Personalmangel insbesondere eine Folge der schlechten Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen im Pflegesektor in Deutschland und vielen Mitgliedstaaten ist. Die Berufe in dem Sektor sind durch niedrige Löhne, hohe Belastungen und Stress, unzureichenden Arbeitsschutz und eine geringe öffentliche Anerkennung ihres Wertes gekennzeichnet. Besonders in den letzten Jahren hat die Covid-19-Pandemie die psychische Gesundheit der Pflegekräfte zusätzlich stark beeinträchtigt. Viele von ihnen leiden unter Burnout oder anderen stressbedingten Störungen, die durch die belastenden Umstände der Pandemie begünstigt wurden.
Um die Anwerbung und Bindung von Personal zu verbessern, bedarf es nach Meinung des dbb vor allem Maßnahmen für bessere Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen im Pflegesektor. Die Maßnahmen sollten sich auf das Lohnniveau, die Belastung und den Stress, die Standards für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz sowie eine bessere öffentliche Wahrnehmung der Pflegekräfte und der wichtigen Arbeit, die sie leisten, erstrecken.
Ein weiteres Problem sieht der dbb außerdem im Mangel an wohnortnahen Beratungsstrukturen. Mangelnde Informationen über die zustehenden Leistungen führen dazu, dass viele Leistungen und Unterstützungsangebote aus fehlender Kenntnis nicht in Anspruch genommen werden. Hier besteht aus Sicht des dbb ein Interessenkonflikt: Sofern alle zustehenden Leistungen in Anspruch genommen würden, stiegen im Umkehrschluss auch die Kosten stark an. Der dbb unterstützt deshalb die vom damaligen Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, ins Gespräch gebrachten Pflege- und Entlastungsbudgets, die Leistungen pauschal und transparent abbilden und dem individuellen Wunsch- und Wahlrecht besser Rechnung tragen als dies aktuell der Fall ist.
Darüber hinaus fordert der dbb einen stärkeren Fokus auf eine geschlechtergerechte Angehörigenpflege. Der dbb hat hierzu als Mitglied des Beirats zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf an einem Konzept für eine steuerfinanzierte Entgeltersatzleistung für pflegende Angehörige mitgearbeitet, welches Anreize für mehr Partnerschaftlichkeit beinhaltet. Der dbb wünscht sich hier auch auf europäischer Ebene eine stärkere Akzentuierung.
Im Hinblick auf eine Entlastung des Pflegepersonals greift die Initiative der EU-Kommission eine stärkere Einbindung digitaler Assistenzsysteme auf. Der dbb zeigt sich in diesem Kontext aufgeschlossen, gibt aber zu bedenken, dass entsprechend sensible Daten ausreichend vor Fremdzugriff geschützt sein müssen.
Der dbb betont ferner, dass mit Blick auf die Förderung neuer Wohnformen die deutsche Pflegeversicherung bereits viele Fördermöglichkeiten vorweist. Beispielsweise sind hier die Förderung des pflegegerechten Umbaus der Wohnung bis zu 16.000 Euro, die Förderung ambulanter Pflege-WGs bis zu 16.000 Euro sowie eine Kostenübernahme von technischen Hilfsmitteln wie Krankenbetten abgedeckt. Wünschenswert ist für den dbb jedoch eine länderübergreifende Regelung, besonders in grenznahen Regionen.
Aus Sicht des dbb muss künftig außerdem wesentlich stärker präventiven Aspekten Rechnung getragen werden. Der Leitsatz „Reha vor Pflege“ findet nach Ansicht des dbb zu wenig Anwendung. Gerade im Bereich der geriatrischen Rehabilitation stellt sich in Deutschland die Frage der Finanzierung. Derzeit werden hier die Kosten in vollem Umfang von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen. Der dbb erachtet es als zielführender, wenn die Kosten von der Pflegeversicherung übernommen werden, da diese im Gegensatz zur Krankenversicherung ein tatsächliches Interesse an der Vermeidung von Pflegebedürftigkeit hat. Eine entsprechend umgestellte Finanzierung würde die Leistungsgewährung verbessern.
Darüber hinaus sollte eine EU-Pflegestrategie als Teil der Europäischen Strategie für aktives und gesundes Altern dazu beitragen, dass auf nationaler Ebene mehr Instrumente zur Anerkennung der Fähigkeiten von Pflegekräften zur Verfügung stehen. Krankenschwestern und -pfleger, Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten, Hilfskräfte, technisches Personal und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter leisten wichtige Unterstützung für formelle und informelle Pflegekräfte. Ihre Rolle und Arbeit wird jedoch auf nationaler Ebene nicht immer ausreichend anerkannt. Durch eine EU-Pflegestrategie, die ihre Rolle als Fallmanager anerkennt, sollten ihre Fähigkeiten und Kompetenzen besser bewertet und in lokalen Kontexten genutzt werden.
Der dbb hebt noch einmal hervor, dass bestehendes EU-Recht der EU im Bereich der Pflege und Betreuung begrenzte gesetzgeberischen Kompetenzen zuschreibt. Die Agenda der EU-Pflegestrategie soll deshalb häufig durch Ratsempfehlungen umgesetzt werden. Zielgerechte Empfehlungen würde der dbb auf nationaler Ebene unterstützen, damit nötige Reformen und Investitionen angegangen werden.
Verfügbarkeit, Zugang, Erschwinglichkeit und Qualität: Mit der neuen Europäischen Strategie für Pflege und Betreuung möchte die Europäische Kommission erreichen, dass alle Menschen, die Pflege und Betreuung benötigen, auch in allen Lebensphasen Zugang zu einer hochwertigen und erschwinglichen Pflege und Betreuung erhalten. Zudem zielt sie darauf ab, bessere Arbeitsbedingungen für Betreuungs- und Pflegekräfte voranzutreiben, die gesellschaftliche Anerkennung der Betreuungs- und Pflegeberufe zu fördern sowie eine Vergütung der Beschäftigten zu fordern, die den hohen gesellschaftlichen Wert und das wirtschaftliche Potenzial ihrer Arbeit auch widerspiegelt. So soll die Teilnahme an frühkindlicher Betreuung, Bildung und Erziehung im Rahmen der Barcelona-Ziele der EU von 2002 durch neue Maßnahmen für eine verbesserte Erschwinglichkeit, Zugänglichkeit und Qualität von nicht segregierten und integrativen Dienstleistungen gestärkt werden. In der Langzeitpflege soll zunächst ein Rahmen für politische Reformen geschaffen werden, um einen verbesserten und bezahlbaren Zugang zu hochwertigen Diensten zu gewährleisten. Konkret im Fokus stehen dabei Investitionen in Pflegedienstleistungen, die Verbesserung von Arbeitsbedingungen, die Entlastung von informellen Pflegepersonen, Investitionen in ein aktives und gesundes Altern sowie Präventionsstrategien und die Bereitstellung von Unterstützung für technologische Innovationen im Sektor.