Europäischer Abend
Europas Zukunft – Aufbruch oder Abbruch
Europa ist in Bewegung. Eine Krisenserie erschüttert die Europäische Gemeinschaft: Angefangen bei der Weltfinanzkrise über das griechische Schuldendrama bis hin zum nie dagewesenen Flüchtlingszustrom, gefolgt von offen zu Tage tretenden Verwerfungen innerhalb der EU-Gemeinschaft – Russland-Konflikt, Brexit. Und nun haben die Niederländer auch noch dem Assoziierungsabkommen zwischen EU und Ukraine eine Absage erteilt. Wie steht es um „Europas Zukunft – Aufbruch oder Abbruch“? Zu Impulsen und Diskussionen begrüßten die Gastgeber Eva Högl, MdB, Vizepräsidentin der Europa-Union Deutschland, und der dbb Bundesvorsitzende Klaus Dauderstädt am 11. April 2016 Dr. Viviane Reding, MdEP, frühere EU-Kommissarin und EU-Kommissions-Vizepräsidentin, Prof. Dr. Gesine Schwan, Präsidentin der Humboldt-Viadrina Governance Platform, Dr. Wolfram Eilenberger, Chefredakteur „Philosophie Magazin“, Prof. Dr. Herfried Münkler, Lehrstuhlinhaber für „Theorie der Politik“ an der Humboldt-Universität zu Berlin und Jens Spahn, MdB, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesministerium der Finanzen, im dbb forum berlin.
In ernster Sorge um Europa zeigte sich Eva Högl: „Die Stimmen jener, die keine Freundinnen und Freunde Europas, von staatenübergreifender Gemeinsamkeit sind, werden immer lauter. Nationalstaatliche Interessen drängen in den Vordergrund, sowohl in den Parlamenten der Mitgliedstaaten als auch bei ihren Bürgerinnen und Bürgern.“ Die Herausforderungen, mit denen sich die Europäische Union aktuell auseinandersetzen müsse, seien denkbar vielfältig und heikel: Flüchtlingsfragen, das Großbritannien-Referendum, Griechenlands Finanzprobleme, die dramatisch hohe Jugendarbeitslosigkeit in den südlichen Mitgliedstaaten und schließlich auch die konkrete Gefährdung des nunmehr „71 Jahre währende Friedens, der größten Errungenschaft der europäischen Gemeinschaft“, zählte die Europa-Union-Vize mit Blick auf den Ukraine-Konflikt auf. „Wir müssen Europa immer wieder neu weiter entwickeln, es gibt in unserer europäischen Geschichte nicht immer nur Fortschritte“, so Högl. „Aber es lohnt sich, dass wir uns alle gemeinsam weiter für diese Idee engagieren.“
Zurück ins 19. Jahrhundert?
„Ein Europa der Nationalstaaten – Zurück ins 19. Jahrhundert?“ – unter dieser Überschrift diskutierten Gesine Schwan und Wolfram Eilenberger die aktuellen Tendenzen innerhalb der Europäischen Union. Eine „leichtfertige Zerstörung“ der europäischen Idee attestierte Schwan als „Folge der kontinuierlichen Entsolidarisierung unter den Mitgliedstaaten“, zu der die deutsche Bundesregierung mit ihrer Politik in Europa einen erheblichen Anteil beigetragen habe, indem sie selbst sich auf die Sicherung ihrer nationalen ökonomische Interessen konzentriert habe – sowohl im Zuge der Finanzkrise als auch in punkto Griechenland oder auch aktuell bei der Bewältigung der Flüchtlingssituation. Über einen längeren Zeitraum habe all dies zu einem inneren Zerstörungsprozess, einer geistig-normativen Erosion der europäischen Gemeinschaft geführt. „Das bricht nun plötzlich auf“, stellte Schwan fest, „aber alle tun so, als könne man dieses Problem mit Konversation und Floskeln lösen“. Wirklichen Mut, solidarisch europäisch zu handeln, sehe sie derzeit bei keiner nationalstaatlichen Regierung der EU-Mitglieder, kritisierte Schwan. Einen möglichen Weg aus der Krise sieht die Politologin in einem neuen moralischen Zusammenhalt innerhalb der Union, der mit ökonomischen Maßnahmen gefördert werden könne. „Wir müssen die Ursachen für Feindseligkeiten und Ressentiments der Europäerinnen und Europäer untereinander bekämpfen“, forderte Schwan – es sei doch klar, was jungen Ausbildungsplatzsuchenden und Arbeitslosen in Südeuropa durch den Kopf gehe, wenn sie ihre Altersgenossen etwa in Deutschland betrachteten. „Hier müssen wir ansetzen“, so Schwan. „Warum nicht die Flüchtlingskrise zum EU-weiten Investitionsprogramm machen, von dem alle Nationalstaaten auf die vor Ort beste Art und Weise profitieren?“, regte die Politik-Professorin an. Entsprechende Ideen und Impulse in diesem Sinne gebe es bereits, beispielsweise in Portugal und Italien. „Diese Gedanken müssen jetzt schnell und konstruktiv weiter verfolgt werden“, mahnte Schwan.
Keine ökonomischen Lösungen sieht dagegen Philosoph und Publizist Wolfram Eilenberger für die Krise der Europäischen Union, die er „bis 2010“ immerhin als „bestfunktionierendes Staatenbündnis der Welt“ bezeichnet. Nun aber sei die EU „wie aus einem Traum erwacht“ und werde sich der jahrelangen „Lebenslüge“ bewusst, man könne „ewig im mauerlosen Paradiesgarten mitten in einer Welt des Elends“ leben. „Es wird jetzt sehr schwer für die EU, neue Perspektiven zu entwickeln, weil sich ihre ökonomischen Errungenschaften wie der freie Markt und die Reisefreiheit erschöpft haben, hier gibt es kein Wachstum mehr“, so Eilenbergers Analyse. Und statt Gestaltung prägten derzeit eher Sorgen über Sorgen die aktuelle Diskussion, Europa habe ein Identitätsproblem. „Gab es früher zwei große identitätsstiftende Narrative in Europa, die kulturelle und die ökonomische Identität, ist Europa momentan nicht in der Lage, ein neues kulturelles Identitätskonzept zu entwickeln, das zudem nicht rechts gelagert ist“, stellte Eilenberger fest. Diese „identitären Zentrifugalkräfte“ seien momentan so stark, dass sich der Philosoph keine konkrete Lösung vorzustellen vermag. Nur eines sei sicher, so Eilenberger: „Eine ökonomische Argumentation wird das Auseinanderdriften der Mitgliedstaaten nicht verhindern können.“ Eilenbergers Rat mit Nietzsche: „Gelenkigkeit im Denken, Mut zu erkennen, dass die jahrelang gepflegten Überzeugungen möglicherweise jetzt nicht mehr die richtigen sind.“
Münkler: „Aufbau als Rückbau, nicht aber Abbruch“
Anhand der These, die Europäische Union leide unter dem Phänomen der Überdehnung, skizzierte Prof. Dr. Herfried Münkler Ansätze, das drohende Scheitern der EU zu verhindern. Politische Überdehnung bezeichne dabei den Scheitelpunkt, ab dem es mit einem politischen Konstrukt wie die EU wieder bergab gehe. Historisch betrachtet sei dies der Punkt, an dem die Politik gegensteuere, etwa, indem sie gebundene Ressourcen wieder freisetze oder das politische Reich verkleinere. Auf der Seite der Gesellschaft äußere sich eine Überdehnung darin, dass Menschen erneut beginnen, Kleinräumigkeit und starke politische Führung zu bevorzugen – derzeit ablesbar am Aufstieg europafeindlicher Parteien. Das „europäische Mantra“ von permanentem Wachstum und Frieden sei „verstimmt“, so Münkler. Der Politologe legte dar, dass Europa scheitere, wenn seine Mitte scheitere. Werde die europäische Mitte in Deutschland verortet, gelte es jetzt, das Zeitfenster für nötige Korrekturen nicht zu verpassen und dem Populismus entgegenzutreten. Da die Verkleinerung eines Reichs historisch betrachtet meist zu erheblichen Problemen geführt habe, plädierte Münkler für eine EU-Reform durch Flexibilisierung der Rechte und Pflichten in „konzentrischen Kreisen und Elipsen“ zu den Rändern hin: „Aufbau als Rückbau, nicht aber Abbruch“ sei das politische Gebot der Stunde, um Europa zu retten.
Europäische Institutionen: Lösung oder Problem?
Eine intensive Debatte darüber, wie die Europäische Idee zu retten sei, bestritten Viviane Reding und Jens Spahn. Reding plädierte für eine Stärkung der europäischen Institutionen. So habe der erste Versuch, bei den letzten Europawahlen einen wirklich europäischen Wahlkampf zu führen, die Akzeptanz der Staatenunion in den Umfragen merklich erhöht. Auch der Europäische Gerichtshof habe mit seinen Entscheidungen mehrfach die Fehler der Politik „wieder hingebogen“. Die im Kern immer noch nationalstaatlich geprägte Union habe versäumt, nach der starken wirtschaftlichen Union „den zweiten Schritt zu gehen“ und auch die politische Union weiter voranzutreiben. „Warum gibt es beispielsweise immer noch keinen EU-Finanzminister?“, fragte Reding. Auch eine Europa der „konzentrischen Kreise“, also ein Verbund aus sich überlagernden, unterschiedlichen Verbindlichkeiten (wie des Schengen-Raums, der Eurozone etc.) sei möglich, bedürfe aber ebenfalls im Kern eine stärkere poltische Union.
Dem hielt Spahn, der auch Mitglied im CDU-Präsidium ist, entgegen, dass eine weitere Integration derzeit nicht die Lösung sei. Lange Zeit sei das erklärte Ziel gewesen, dass es einen in allen Belangen harmonisierten EU-Raum gebe, den die einzelnen Länder aber in unterschiedlichen Geschwindigkeiten erreichten. Es gelte anzuerkennen, dass der Pathos des Vereinten Europa aber nicht mehr trage, und heute die Einheit in allen Bereichen eben nicht mehr das Ziel sei. Um die europäische Idee trotzdem zu retten, sei eine neue Definition und gegebenenfalls auch Stärkung der Aufgaben der Nationalstaaten nötig. Diese müssten dann die Themen, die – wie etwa Migration, Terrorismusabwehr, Außen- und Sicherheitspolitik – sinnvoller Weise auf europäischer Ebene gelöst werden müssten, im Zweifel auch zwischenstaatlich und damit außerhalb der EU-Institutionen lösen.
Diesen Ansatz erkannte Viviane Reding zwar als „sehr realpolitischen“ an, mahnte aber: „Es ist gefährlich, nur Realpolitik zu machen. Wenn es um ein geeintes Europa geht, höre ich mit dem Träumen nicht auf!“
Dauderstädt: Gemeinsame europäische Antworten
„Einen Abbruch des europäischen Projekts kann und darf es nicht geben. Europa braucht einen neuen gemeinsamen Aufbruch“, mahnte auch Klaus Dauderstädt in seinem Schlusswort. „Europa ist unser aller Aufgabe“, betonte der dbb Chef. „Das ist nicht nur Sache der Politik, auch zivilgesellschaftliches Engagement und sozialpartnerschaftliche Verantwortung sind gefragt. Dabei haben wir auch als Beamtenbund den einen oder anderen Konflikt mit europäischen Regelungen, vor allen Dingen dann, wenn wir glauben, dass das deutsche Modell gut funktioniert – wie etwa das duale System in der beruflichen Bildung, der besondere Beamtenstatus oder unsere selbstverwaltete, beitragsfinanzierte und gegliederte Sozialversicherung. Dort halten wir das Subsidiaritätsprinzip hoch. Doch eine Renationalisierung Europas wäre nicht nur ein politischer Rückschritt, sondern weit mehr als das. Eine Renationalisierung würde die europäische Ordnung zerstören, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet hat. Sie würde ein gefährliches Vakuum erzeugen und damit Raum schaffen für neue Hierarchien in Europa, für ein neues Machtgefüge, das am Ende nur Verlierer kennt“, warnte der dbb Chef. „Ein neuer europäischer Aufbruch ist in jedem Fall eine gemeinsame Aufgabe der Europäer. Deutschland trägt dabei große Verantwortung, es tut dies aber nicht allein“, unterstrich Dauderstädt. „Abgesänge auf die Europäische Union“ halte er deshalb für unangebracht. „Die Zeiten mögen zwar schwierig sein, die Institutionen funktionieren aber nach wie vor. Das politische System, das die europäische Integration hervorgebracht hat, habe sich gerade in den Krisenjahren bewährt. Manche sind enttäuscht über die europäische Politik, vor allem über die Politik einiger Regierungen in Europa, doch zeigen viele Meinungsumfragen, dass die Bürger in den großen Fragen unserer Zeit gemeinsame europäische Antworten wünschen.“