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    Cagla Kurtcu leitet die Gesundheitskioske in Hamburg und kümmert sich um die Patienten.
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    Cagla Kurtcu leitet die Gesundheitskioske in Hamburg und kümmert sich um die Patienten.

Reportage

Gesundheitskioske: Bürgernahe Versorgung to go in Gefahr

Laut Träger sind Gesundheitskioske erfolgreich und spielen ihre Kosten mittelfristig wieder ein. Trotzdem steht das Konzept politisch auf der Kippe.

Eigentlich sollte es um die Mutter gehen, die einen Schlaganfall hatte: Sie schafft es einfach nicht, unge­sunde Lebensgewohnheiten abzulegen, zu groß der Stress. In der Beratung stellt sich heraus: Ihr Sohn leidet unter Autismus. Bisher hat niemand eine entsprechende Diag­nose gestellt. Das medizinische Personal vermittelt den Kontakt zu einer sozialen Einrichtung, welche die Mutter entlastet, damit sie sich fortan auch um ihre eigene Gesundheit kümmern kann. Heute geht es ihr besser.

„Das ist ein Beispiel für eine Erfolgsstory, wir spüren die Dankbarkeit und Erleichterung, wenn wir den Menschen helfen können“, sagt Cagla Kurtcu, die Leiterin des Gesundheitskiosks. Die Idee hinter dem Konzept: eine niedrigschwellige Beratung schaffen und die Prävention verbessern, und das vor allem in sozioökonomisch benachteiligten Bezirken.

Gesundheitskioske arbeiten an der Schnittstelle zwischen Medizin und Sozialarbeit, vermitteln bei Bedarf zu Fachärzten oder zur Suchtberatung. Beratungsgespräche mit medizinisch geschultem Personal, mal den Blutdruck messen, medizinische Nachsorge – all das gehört zu den Dienstleistungen.

Die Mitarbeitenden sprechen mehrere Sprachen und ­haben interkulturelle Kom­petenzen. Sie überwinden Sprachbarrieren, wenn etwa Menschen mit Migrationshintergrund die Diagnose ihres Arztes nicht richtig verstanden haben. Oder unterstützen, wie im Falle eines blinden Mannes, der die Nachsorge einer Operation ­nicht alleine bewerkstelligen konnte.

Zu finden sind die Gesundheitskioske dort, wo viel ­Publikumsverkehr herrscht. „So können wir unsere Zielgruppe am besten erreichen“, erklärt Kurtcu. „Die Leute können spontan vorbeikommen.“

Direkt und ohne Hemmschwelle

Ein Montagvormittag, das Einkaufszentrum im Hamburger Stadtteil Bramfeld: Die Rolltreppe hinunter, vorbei am Supermarkt, rechts befindet sich ein Bäcker. Viel ist nicht los, eine ältere Dame war gerade einkaufen, die Tüten vorn im Korb ihres Rollators. Gegenüber vom Bäcker verharrt sie vor einem Bildschirm, liest aufmerksam: „Treppensteigen, Fenster putzen oder ein Spaziergang: Kommen Sie dabei schnell außer Atem? Dahinter kann eine (chronische) Erkrankung der Lunge stecken. Sind Sie betroffen?“ Prompt wechselt die Anzeige, weiter geht es im Text: „Nicht­raucher sein lohnt sich! …“

Der Bildschirm gehört zum Gesundheitskiosk, der in einem Häuschen untergebracht ist, mitten im Einkaufszentrum.

Das ist sinnvoll, bevor jemand wie eine Flipperkugel durchs Gesundheitssystem irrt und schlimmstenfalls niemals ankommt.

Matthias Mohrmann, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg, über das Konzept

Wer durch die Schiebetüren geht, steht an einem großen Tresen, wie man ihn aus Arztpraxen kennt. Dahinter, im Zimmer mit den großen Scheiben, teils mit milchigem Sichtschutz beklebt, findet gerade eine Beratung statt. Ganz hinten eine Wand, zahlreiche Broschüren in der Halterung, zu diversen gesundheitlichen Themen: Ernährung, Herz-Kreislauf, Sucht. ­Aktuell gibt es bundesweit insgesamt sieben Gesundheitskioske; zwei in Essen, jeweils einen in Aachen, Köln und Solingen sowie zwei Hauptstandorte in Hamburg: in Billstedt – und eben hier in Bramfeld.

„Die medizinische Versorgung geht meist dorthin, wo das Geld ist“, sagt Alexander Fischer, Geschäftsführer der Trägergesellschaft der Hamburger Gesundheitskioske. Mit anderen Worten: in wohlhabendere Bezirke. Dies führe dazu, dass es in den ärmeren Bezirken lediglich eine ausgedünnte Versorgungsstruktur gibt, wo die Arztpraxen im Hinblick auf Sprache und Kultur einer komplexen Patientenklientel gegenüberstehen. „Eine Folge sind sehr lange Warte­zeiten“, erklärt ­Fischer. „Und daraus folgt ­wiederum, dass Patienten Krankheiten verschleppen, in die Notauf­nahme gehen und sta­tionär abwandern.“

Letzteres ist mit hohen Kosten verbunden und nicht im Sinne ­einer guten medizinischen Versorgung. Vor diesem Hintergrund hat die in der Region ­ansässige Ärzteschaft die Ini­tiative er­griffen und 2017 im Hamburger Stadtteil Billstedt den ersten Gesundheitskiosk ins Leben gerufen. Die AOK Rheinland/Hamburg war von Anfang an mit im Boot, außerdem weitere Krankenkassen und die Stadt Hamburg. Die Finanzierung erfolgte ­zunächst über den Innovationsfonds des Bundes.

Nach der dreijährigen Förderphase zog der verantwortliche Innovationsausschuss ein positives Fazit – und empfahl, das Konzept des Gesundheitskiosks in die Regelversorgung zu übertragen. Heißt: es in einen gesetz­lichen Rahmen zu gießen. Doch das ist bis heute nicht passiert. Von ursprünglich fünf beteiligten Krankenkassen ist außer der AOK nur noch eine weitere dabei.

Warum ist die AOK noch an Bord und übernimmt aktuell die ­Finanzierung?

„Schlicht und einfach, weil wir von dem Konzept überzeugt sind“, sagt Matthias Mohrmann, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg. Es sei leider so, dass nicht alle Menschen dieselben Gesundheitschancen haben. Wer sozioökonomisch benachteiligt ist, leide öfter unter chronischen Erkrankungen und habe eine geringere Lebenserwartung. „Als gesetzliche Krankenkasse sehen wir es als unseren Auftrag, Versorgung gerechter zu gestalten und damit für mehr Chancengleichheit zu sorgen“ – es gehe darum, dass alle Pa­tientinnen und Patienten mit ihrer Erkrankung den richtigen Weg finden.

Das System sinnvoll ergänzen

Im Gesundheitskiosk können sich die Mitarbeitenden Zeit nehmen, sie vermitteln zu den geeigneten Stellen. Mohrmann: „Das ist sinnvoll, bevor jemand wie eine Flipperkugel durchs Gesundheitssystem irrt und schlimmstenfalls niemals ­ankommt.“ Die regionale Ärzteschaft sei für diese Form der Entlastung sehr dankbar. Ist die Behandlung erfolgt, ­koordiniert der Gesundheits­kiosk gegebenenfalls die Nachsorge und steht bei Fragen als Ansprechpartner zur Verfügung. Dinge, für die im stressigen ­Praxisbetrieb oft keine Zeit bleibt.

„Der Gesundheitskiosk ist keine Parallelstruktur, sondern eine sinnvolle Ergänzung des bestehenden Systems“, betont Alexander Fischer. Alle Ärztinnen und Ärzte könnten mit dem Gesundheits­kiosk zusammenarbeiten, darauf liege der Fokus; es gehe nicht ­darum, Patientinnen und Patienten abzuwerben. Auch andere Länder, unter anderem Skandinavien, hätten mit dem Konzept ­bereits gute Erfahrungen gemacht. „Ich hoffe sehr, dass wir die Gesundheitskioske in die Regelversorgung bekommen. Es wäre fatal, ein funktionierendes System jetzt einfach aufzugeben.“

Doch das könnte passieren – wenn es so kommt, will die AOK Rheinland/Hamburg die bestehenden Gesundheitskioske dennoch weiter finanzieren.

Aktuell befindet sich das sogenannte Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) im parlamentarischen Verfahren. Die Gesundheitskioske waren Teil des Entwurfs, sind es derzeit aber nicht mehr.

Das hat verschiedene Gründe: Gesundheitsminister Karl Lauterbach, grundsätzlich Sympathisant des Konzepts, hatte medienwirksam verkündet, in ganz Deutschland 1 000 Gesundheitskioske eröffnen zu wollen. „Das hat der Sache nicht genützt“, erklärt Mohrmann. Der Minister habe das Projekt in eine finanzielle Dimension gehoben, in die es gar nicht gehört. Bei jährlichen Kosten in Höhe von 400 000 Euro pro Kiosk ergibt sich eine enorme Summe.

„Dabei sind nach unserer Einschätzung bundesweit 50 bis 100 Gesundheitskioske ausreichend“, sagt der AOK-Vorstand. Zwar hatte Lauterbach die Zahl zwischenzeitlich wieder nach unten korrigiert; das konnte die FDP Medienberichten zufolge allerdings nicht überzeugen. Die Liberalen halten das ­Konzept für zu ­teuer und ineffi­zient.

„Das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz liegt vor allem bei den Punkten richtig, die nicht mehr erwähnt werden – und auch nicht mehr reinverhandelt werden. Namentlich die Gesundheitskioske, für die weder Geld noch Bedarf ist“, wird Andrew Ullmann, gesundheitspolitischer Sprecher der FDP, in einer Pressemitteilung zitiert. „Anstelle der Gesundheitskioske wäre es angebracht, die Apotheken im ­Bereich der Erstversorgung zu stärken.“

Noch lässt sich die Idee retten

Dass der GVSG-Entwurf endgültig ist, sieht Mohrmann – im Gegensatz zu FDP-Politiker Ullmann – anders: „Theoretisch besteht durchaus die Möglichkeit, dass wir die Gesundheitskioske im parlamentarischen Verfahren wieder ins Gesetz bekommen, dafür ist es ja da“, sagt er. Ähnlich hat sich auch Gesundheitsminister Lauterbach geäußert. Offene Fragen bestehen auch im Hinblick auf die Finanzierung. Laut Entwurf – der nun vorerst vom Tisch ist – sollten die gesetzlichen Krankenkassen 74,5 Prozent der Kosten zahlen, die privaten 5,5 und die Kommunen 20 Prozent.

Dazu hatte der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) erklärt: „Die mit den Gesundheitskiosken verbundene Zielsetzung, die gesundheitliche Chancengleichheit zu stärken, ist auch ein wichtiges Anliegen der Krankenkassen, die sich ­bereits heute umfassend um ihre Versicherten kümmern“ – die zum damaligen Zeitpunkt geplante Ausgestaltung der Gesundheits­kioske sei ­hingegen im Kern kommunale Sozialarbeit, heißt es.

Deshalb müssten sie primär von den Kommunen und nicht, wie ursprünglich vorgesehen, primär aus den Krankenkassenbeiträgen der gesetzlich Versicherten und ihrer Arbeitgebenden bezahlt werden. „An der Kostenverteilung ließe sich sicher noch schrauben“, sagt AOK-Vorstand Mohrmann. Im Fall der beiden Essener Gesundheitskioske sei es bereits so, dass die Kommune 50 Prozent der Kosten trage.

Insgesamt wäre der Optimalfall, dass die Politik die Gesundheitskioske und gleichzeitig eine Kostenbeteiligung der anderen Sozialleistungsträger im Sozialgesetzbuch verankert. Dann wären alle Krankenkassen im Boot, die Finanzierung ge­sichert und ein klarer ­gesetzlicher Auftrag gegeben. Mohrmann mit Blick auf das parlamentarische Verfahren: „Hoffen wir das Beste!“

Das hofft auch Cagla Kurtcu, die auf weitere Erfolge des Gesundheitskiosks blickt: Da gibt es den übergewichtigen Jugendlichen, der kurz davor war, Medikamente zu schlucken, um abzunehmen, es dann aber nach der Beratung doch nicht musste. Die Mittdreißigerin, die Blutdruckdrucksenker nahm, sie aber nach einer Ernährungsumstellung wieder absetzen konnte. Und nicht zuletzt die junge, alleinerziehende Mutter, ihr Kind am Rande der Unterernährung. Auch für sie hat der Gesundheitskiosk diverse Hilfen in die Wege leiten können. Als Dank habe die junge Frau gesagt: „Ich bete jeden Abend für den Gesundheitskiosk.“

Text: Christoph Dierking

 

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